»IMAGON«

Leseprobe 3


Ich saß eine Weile in mich gekehrt auf dem Berggipfel. Dann zog ich mir die Schneebrille vom Gesicht und massierte meine Augen. Meine Muskeln waren durch das lange Sitzen steif vor Kälte.
  Eine Stunde später hatte ich den Großteil meines Proviants verbraucht und stapfte gedankenversunken ›nach Hause‹. Bei meinem Frachtcontainer angekommen, verstaute ich die leeren Geräteboxen flugsicher in seinen Tiefen. DeFries, den ich wie erwünscht über meine Rückkehr informiert hatte, half mir beim Verladen. Im Gegensatz zu mir trug er keine Handschuhe, hatte seinen Parka geöffnet und seine Schneebrille an ihrem Gummiband um den Hals baumeln. Er wirkte erschöpft, und die Ringe unter seinen Augen schienen in den letzten Stunden wesentlich dunkler geworden zu sein, fast, als habe die Arbeit in der Eishalle auch ein Gros an Lebensenergie aus seinem Körper gewaschen, die nun mit dem Schmelzwasser dampfend Richtung Kratermitte davon strömte.
  »Sie sehen müde aus«, bemerkte ich, nachdem wir die Seitenwand des Containers runtergeklappt hatten und er abflugfertig verschlossen war.
  DeFries zuckte mit den Schultern. »Bad vibrations«, scherzte er, in offensichtlicher Anspielung auf den Kompressor. »Der Lärm und die heiße Feuchtigkeit rauben einem den letzten Nerv.« Er sah mich prüfend an. »Und selbst? Kopfschmerzen?« Ich verzog die Lippen. »Das macht der Luftdruck«, meinte DeFries und gähnte. »Sie sollten besser nach oben gehen und sich von Paamit einen Mineraliencocktail mixen lassen.«
  Ich runzelte die Stirn, DeFries massierte sich den Nacken. Dabei senkte er den Kopf, und ich konnte einen Blick in den Ausschnitt seines Rollkragenpullovers werfen, dessen weiter Kragen nach vorne fiel. DeFries trug etwas um seinen Hals. Ich konnte nicht sehen, was es war, nur die Lederschnur, an der es befestigt sein musste. Diese Entdeckung erregte meine Aufmerksamkeit, denn ich kannte DeFries als einen Menschen, der Körperschmuck missbilligte, egal, ob es sich dabei um Ringe, Ketten, Armbänder oder Tätowierungen handelte.
  Ich ließ mir nichts anmerken, als mein Gegenüber den Kopf wieder hob und schweigend erst über das Eis, dann ruckartig zurück zum Gebäude starrte, als habe er von dort einen stummen Ruf vernommen.
  »Waren Sie schon ...?«, begann DeFries, vollendete die Frage jedoch nicht, sondern deutete auf den dampfenden Schmelzwasserstrom.
  »Nein, ich -«
  Das ferne Schlagen von Trommeln ließ mich verstummen. Ich sah zuerst suchend über den Eissee, dann hinauf in Richtung Station. Dort, wo ich die Iglus vermutete, säumten über ein Dutzend Eskimos den Kraterrand. Vier von ihnen schlugen große Handtrommeln und intonierten gemeinsam mit den anderen einen monotonen, kanonartigen Singsang, der gespenstisch zu uns herabdrang.
  »Wer sind die denn?«, fragte ich verdutzt.
  »Talalinqua und sein Gefolge.« DeFries zog sein Funkgerät und gab eine Anweisung auf Grönländisch. An der Grabungsstätte regte sich nichts, daher nahm ich an, dass er jemanden im Lager informiert hatte. »Sie zelebrieren das jeden Tag um dieselbe Zeit«, erklärte er, als er das Funkgerät wieder einsteckte. »Ist so eine Art Freiluft-Angakokfest.«
  »Ein was
  »Eine Geisterbeschwörung. Talalinqua - der Kerl mit der Eisbärenmaske in der Mitte - ist ein Angakok; ein notorisch sauertöpfischer Schamane, dessen Geist schon gelebt haben will, als Babylon noch ein Traum seiner Architekten war. Er tauchte vor acht Tagen hier auf. Wenn wir nicht aufpassen, wird der Krater noch zu einem Wallfahrtsort.«
  Ich sah zweifelnd nach oben. »Und wen beschwören sie am helllichten Tag?«
  »Den helllichten Tag«, grinste DeFries. Sein Lächeln wirkte jedoch gequält. »Genauer gesagt: Fortuna. Sie beschwören die Sonne, nicht unterzugehen.«
  Ich hob die Augenbrauen. »Zumindest für die nächsten zwei Wochen dürften sie damit Erfolg haben.«
  DeFries schnaubte. »Nun gut«, sagte er, »kümmern Sie sich nicht weiter darum. Ich muss wieder an die Arbeit. Falls Sie dem Schluckloch noch einen Besuch abstatten wollen, so folgen Sie einfach dem Schmelzwasser. Gehen Sie aber nicht zu nah an die Öffnung 'ran. Wir sehen uns heute Abend? Ich interessiere mich brennend für Ihre Theorie - oder was dann noch von ihr übrig ist.« Er klopfte mir auf die Schulter und trottete davon. »Und kommen Sie mir nicht hinterher!«, rief er über seine Schulter zurück.
  Ich sah ihm nach, bis er in den Tunnel hinabgestiegen war, dann ließ ich meinen Blick nach rechts wandern, zu dem dampfenden Schmelzwasserbach. Ich bin nicht besonders religiös. Ehrlich gesagt verschwende ich kaum einen Gedanken an Religion. Die Bibel kenne ich nur bruchstückhaft, aus Kindertagen, als meine Mutter mir abends daraus vorlas. Aber in dem Augenblick, als DeFries in der Tiefe verschwunden war und ich auf den heißen Quell blickte, kamen mir unzusammenhängende Textstellen in den Sinn, die die unmittelbare, unwirkliche Stimmung widerspiegelten: Ein Strom entspringt im Garten Eden ... er ist es, der das gesamte Land umfließt ... Gott setzte die Menschen an seine Ufer, damit sie den Garten hüten, und sprach: Von den Früchten aller Bäume dürft ihr essen, nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte steht, haltet euch fern. Denn sobald ihr davon esst, werdet ihr sterben ...


DeFries hatte die Wahrheit gesagt. Zugegeben, ich war angesichts seiner Beschreibung eines Schlucklochs hin- und hergerissen gewesen zwischen Skepsis und Verärgerung; Skepsis hinsichtlich des Wahrheitsgehalts der Geschichte und Verärgerung darüber, dass sie offenbar nur dazu diente, mich abzulenken und weit fort von der Grabungsstätte zu wissen. Aber das Loch existierte tatsächlich.
  Ich war zu dem dampfenden Tümpel gelaufen, der sich im Laufe der Tage um die Schlauchmündung herum gebildet hatte. Das Wasser, das beim Austreten noch mindestens vierzig Grad warm war, hatte hier eine etwa knietiefe und vielleicht zehn Meter breite Senke geschmolzen. Da aus dem Schlauch, der am Grund der Senke träge hin und her wiegte, nicht nur Wasser, sondern auch Luft gepumpt wurde, erweckte der Tümpel den Eindruck einer warmen, brodelnden Quelle. Nach Südwesten hin hatte das davon strömende, bereits wesentlich kühlere Wasser mittlerweile eine gut dreißig Zentimeter tiefe Fließrinne ins Eis gegraben. Zwanzig Meter weiter war das Wasser nur noch handwarm, und nach fünfzig Metern bereits eiskalt. Aber es blieb, wie DeFries es beschrieben hatte, flüssig. Allem Anschein nach vermischte es sich in der Halle beim Schmelzen mit irgendeiner noch unbekannten Substanz, die sein Gefrieren verhinderte. Aber was in aller Welt befreiten DeFries und seine Mannschaft dort unten vom Eis? Eine prähistorische Schnapsdestille? Ich nahm eine Probe des Schmelzwassers und verstaute sie in der Kühlbox, die ich bei mir trug.
  Der Strömungskanal war inzwischen wesentlich niedriger geworden, nur noch fingertief, dafür jedoch annähernd zwei Meter breit. In ihm rann das Schmelzwasser als wenige Millimeter tiefer Film lautlos über den Eissee, weiter und weiter hinaus und ohne ein dem menschlichen Auge ersichtliches Ziel.
  Ich hatte Mühe, durch die Schneebrille den Strömungsverlauf des Wassers nicht aus den Augen zu verlieren. Lediglich einen in ein kälteisolierendes Futteral gepackten Laptop und die Kühlbox trug ich im Rucksack bei mir. Die Zeit bis zu Hansens Eintreffen wollte ich nach meiner Rückkehr ins Lager damit verbringen, gewisse Gedankengänge zu Ende zu führen und meine handschriftlich und stichwortartig festgehaltenen Beobachtungen in aller Ausführlichkeit zu übertragen. Da es erst kurz nach fünf war und Hansen mit der Libelle gegen neun ankommen wollte, blieb mir, so hoffte ich, genug Zeit, um dieses Vorhaben nach meinem Ausflug zu dem ominösen Eisloch auszuführen.
  Als irgendwann vor mir ein Rauschen hörbar wurde und ich wenige Schritte später tatsächlich vor dem Schluckloch stand, stockte mir der Atem. DeFries hatte es mit einer Gletschermühle verglichen, einem jener tiefen, senkrechten Schächte im Gletschereis, in die sich Sturzbäche aus sommerlichem Schmelzwasser ergießen. Doch gegenüber DeFries' Beschreibung einer drei Meter großen Öffnung gähnte vor mir ein Schlund von mindestens fünf Metern Durchmesser. Wenige Schritte vor dem Abgrund hatte sich der Strömungskanal des Wassers wieder verengt und eine tiefe, am Ende kaum mehr armdicke Spalte ins Eis gewaschen, sodass der Schmelzwasserstrom in einer Tiefe von fast zwei Metern in das Schluckloch mündete.
  Ich ließ mich auf alle Viere nieder, doch trotzdem erfüllte mich eine namenlose Angst, als ich mich dem Abgrund näherte. Schließlich legte ich mich auf den Bauch, robbte nach vorne, schob mein Gesicht über die Kante und sah hinab ...
  Ich kann im Nachhinein nicht sagen, wie lange ich so dagelegen hatte. DeFries hatte behauptet, der Gesteinsboden, das eigentliche Festland, beginne acht- oder neunhundert Meter unter uns. Es war nicht sonderlich tief, wenn man bedachte, dass sich das grönländische Inlandeis an seinen mächtigsten Stellen über 3000 Meter hoch auftürmt. Ich hatte in den senkrechten Schlund aus blau leuchtendem Eis geblickt, dessen spiralige Wände sich in den Mittelpunkt der Welt zu winden schienen, und die Zeit vergessen. Zu überwältigend war der Anblick gewesen, der die ältesten, am tiefsten verwurzelten menschlichen Ängste heraufbeschwor. Die Sonne hatte noch über dem Kraterrand gestanden, und das beinahe kristallklare Eis hatte ihr Licht in der Tiefe gebrochen. Achtzig Meter tief, so war es mir vorgekommen, hatte ich hinabblicken können, vielleicht sogar einhundert. Vielleicht war es aber auch nur eine Illusion gewesen, so weit unten noch das stürzende Wasser erkennen zu können. Doch dann - dann hatte nur noch Finsternis geherrscht.
  Finsternis und bodenlose Tiefe ...


»Was halten Sie davon?«
  Broberg reagierte nicht sofort auf meine Frage. Als er Sekunden später kurz aufsah, bewegten sich seine Lippen, ohne dass ein Ton zu hören war. »Das ist in der Tat außergewöhnlich«, kam seine Stimme schließlich mit Verzögerung aus dem Lautsprecher neben meinem Laptop. Broberg hing bereits wieder gedankenversunken über den Ausdrucken der Fotografien, die ich mit einer Digitalkamera geschossen hatte. »Das Schmelzwasser kann es nicht erschaffen haben. Es muss schon vorher da gewesen sein.«
  »Da stimme ich Ihnen zu.«
  Ich hatte unmittelbar nach meiner Rückkehr ins Lager eine Intercomverbindung nach Kopenhagen hergestellt und Broberg via Satellit ein halbes Dutzend Aufnahmen des Schmelzwasserkanals und des Schlucklochs gesandt. Obwohl ich mich bereits seit einer halben Stunde wieder im Wohncontainer aufhielt, fühlte ich mich noch immer vom Blick in den Abgrund ergriffen. Eine innere Kälte erfüllte mich und ließ mich zittern. Ich hatte mir neben dem Schluckloch eine Zigarette angezündet und beobachtet, wie der Zigarettenrauch in einer weiten, abfallenden Spirale hinabdriftete. Dennoch hatte ich keinen Luftsog gefühlt. Der Rauch schien auf die gleiche noch unerklärliche Weise in das Loch gezogen worden zu sein wie das Schmelzwasser. Während Broberg weiterhin aufmerksam die Fotoausdrucke studierte und hin und wieder auf einem zweiten Monitor bestimmte Bildausschnitte des Schlucklochs vergrößerte, schilderte ich ihm das Phänomen.
  »Es existiert kein Sog?«, fragte er zweifelnd. »Sind Sie sicher?«
  »Nicht völlig. Ich kann mich nur auf mein Gespür verlassen.«
  Broberg schürzte seine Unterlippe und atmete tief durch. Dann setzte er seine Brille ab und massierte seine Augen. Völlig unsynchronisiert zu seinem Bildschirm-Konterfei sagte er: »Sie denken das Gleiche wie ich, habe ich Recht? Ihrer Theorie zum Trotz ...«
  Ich verzog das Gesicht. »Etwas ist dort unter dem Eis«, nickte ich. »Es ...« Ich sah in die Webcam, sodass es Broberg vorkommen musste, als blicke ich ihm direkt in die Augen. »Es ist fast schon fühlbar! Es zieht die Elemente und die Sinne an. Als ich in diesen Abgrund blickte, hatte ich eine Sekunde lang sogar das Bedürfnis, mich über den Rand gleiten zu lassen und ... wie das Wasser und der Rauch ...« Ich sah auf meine zitternden Hände.
  »Sie sollten versuchen, ein paar Stunden zu schlafen«, riet mir Broberg, nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten. »Finden Sie heraus, was dort unter dem Eis vor sich geht. Warten Sie notfalls auf Chapmann, der morgen früh von Søndre Strømfjord aus eintreffen wird. Er bringt gutes Equipment mit. Schicken Sie mir jedoch unverzüglich die Daten der Schmelzwasseranalyse.« Nun war es Broberg, dessen Blick zur Webcam wanderte. »Und passen Sie auf sich auf, Poul.«


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