»IMAGON«

Leseprobe 2


Die Helligkeit und das ständige Krachen des Eises im Fjord hielten mich lange wach. Für die erste Nacht auf Grönland schlief ich erstaunlich gut, wenn auch der beunruhigende Traum wiederkehrte. Zumindest erinnerte ich mich am nächsten Morgen nur noch schemenhaft an ihn. Geweckt wurde ich vom Lärm der Schlittenhunde, und während ich von meinen eigenen Vorräten frühstückte, belud Hansen bereits den Helikopter mit Kisten, vornehmlich Fisch, Robbenfleisch und Zigaretten. Ich inspizierte vor unserem Abflug noch den Transportcontainer mit meiner Ausrüstung, der in einem Lagerschuppen neben dem ›Flugplatz‹ untergebracht worden war. Dann gesellte ich mich zu den restlichen Fluggästen, die in der Nähe des Helikopters warteten. Nach einigen Minuten teilte sich das Alltagsgrün, und die Einheitsparkas der Wartenden bildeten Spalier für eine Prozession in Signalrot. Eine mit Decken beladene Sanitätsliege pendelte in den Fäusten von vier Männern vorüber. Aus den Wolldecken schauten vorne schwarze Haare und hinten ein Gipsbein heraus.
  Schließlich stieg Hansen ins Cockpit und wies mir den Copilotensessel zu, der in der voll beladenen Maschine die einzige noch freie Sitzmöglichkeit bot. Insgeheim war ich froh darüber, da ich keine Lust verspürte, mich möglichen Anfeindungen der Einheimischen auszusetzen.
  Gegen 13 Uhr hob die Libelle, wie der Pilot seinen Helikopter euphemistisch nannte, endlich ab. Fette Henne wäre angesichts der plumpen Formen seiner Flugmaschine passender gewesen. Die Libelle war ein fünfzig Jahre alter amerikanischer Sikorsky S-51 und sah aus wie ein rot bemalter Pottwal auf Ballonkufen.
  »Lassen Sie sich von ihren eleganten Formen nicht blenden«, hatte Hansen gewitzelt. »Sie ist vollendet frisiert und unter ihrer Haube tipptopp. Eine rüstige alte Dame.«
  Wir flogen fast zweihundert Kilometer entlang der Nordfjordküste bis Yegavig, wo Hansen zwischenlandete, um den Helikopter noch einmal zu betanken. Mein Pilot hatte sich nicht zurückgehalten, seine Ortskenntnisse unter Beweis zu stellen und sämtliche Inseln, Kaps und Gletscher, die wir während des knapp einstündigen Fluges passierten, mit Namen zu nennen. In Yegavig angekommen, ließ er alle Passagiere (inklusive Krankentrage) aussteigen und vertröstete zwei Mitglieder einer Kajakexpedition, die mit ihren Booten nach Heklahavn gebracht werden wollten, bis zum Nachmittag. Der Impaktkrater war nach wie vor wissenschaftliches Sperrgebiet. Ich blieb als einziger an Bord und fühlte mich wie der König von Grönland auf Stippvisite. Wieder in der Luft, folgten wir einem Hundeschlittentrail hinauf auf den Eisschild, der Kilometer für Kilometer mächtiger wurde und dabei Berg für Berg unter seiner Masse begrub. Der markanteste Wegweiser in der Ferne war Alvermanns Bjerg, dessen schroffer Gipfel aus dem Weiß-Grau des im Eis versinkenden Gebirges wuchs. Mein Herz klopfte, und das Blut rauschte in meinen Ohren, als wir seinen Gipfel umflogen und unvermittelt der riesige Krater sichtbar wurde. Er war noch mindestens zwanzig Kilometer entfernt, doch selbst aus dieser Distanz ließen sich seine Ausmaße erahnen. Ich bemerkte, dass meine Hände schweißnass geworden waren. Jetzt, so kurz vor dem Ziel, brach die gesamte Anspannung und Nervosität der letzten Tage aus mir heraus.
  Als der Helikopter über dem Kessel schwebte, erkannte ich am Fuß der Steilwand auch das mysteriöse Bauwerk wieder. Auf der Oberfläche des Eissees, nahe dem architektonischen Relikt, bewegten sich winzige Figuren in dicken Anoraks. Auf dem Kratergrund wirkten sie wie Ameisen, die über einen Aquamarintisch krabbelten. Die Forschungsstation auf dem Plateau bestand aus zwei Containerkomplexen. Der größere der beiden war nahezu quadratisch und besaß einen Vorbau aus drei oder vier Containern, wahrscheinlich der Eingangsbereich. Der kleinere Komplex ähnelte aufgrund der Anordnung der Container einer Stimmgabel. Ich erkannte zudem ein halbes Dutzend am Kesselrand errichteter Iglus. Eine große Anzahl von Hunden döste neben sechs über das Lager verteilten Transportschlitten. Ob sie sich frei bewegen konnten, ließ sich aus unserer Höhe nicht erkennen. In unmittelbarer Nähe des Kraterrandes ragte ein schlanker, vielleicht fünfzehn Meter hoher Sendemast auf, der von einem niedrigen Unterbau gestützt wurde und offensichtlich dem Funkkontakt zwischen Station und Kratergrund diente.
  »Können Sie nicht direkt im Krater landen?«, fragte ich Hansen, als dieser Anstalten unternahm, mit dem Helikopter auf dem menschenleeren Plateau niederzugehen.
  »Das ist zu riskant.«
  »Ich verspüre keine Lust, mit dreißig Hundegebissen Bekanntschaft zu machen.«
  »Keine Zeit für Experimente. Falls die Maschine im Kessel ausbricht oder ich sie nicht mehr hoch kriege, sitzen meine Passagiere in Yegavig fest.«
  Ein Nebel aus Eiskristallen wurde aufgewirbelt, als der Helikopter einhundert Meter neben den Unterkünften aufsetzte. Ich warf meine Reisetasche aus dem Cockpit und stieg aus.
  »Solange Sie auf zwei Beinen stehen, haben Sie von den Hunden nichts zu befürchten«, rief mir der Pilot hinterher. »Sie halten Sie erst für Futter, wenn Sie am Boden liegen.«
  »Wie beruhigend.« Geduckt blieb ich unter dem Orkan der Rotorblätter stehen. »Wann darf ich mit meiner Ausrüstung rechnen?«, schrie ich gegen den Lärm an.
  »Wenn Sie morgen früh aufwachen, wird Ihr Container schon auf Sie warten. Angenehmen Aufenthalt und viel Erfolg, Mr. Silis. Und verlieren Sie niemals einen Ihrer Handschuhe!«
  Ich sah Hansen verwirrt an und winkte ihm zum Abschied noch einmal zu, doch der Pilot hatte die Nase seines Helikopters bereits nach vorn gelegt und schwirrte davon. Ich setzte meine Schneebrille auf, zog die Fellmütze über die Ohren und sah der in die Ferne verschwindenden Libelle nach. Dann warf ich mir die Reisetasche über die Schulter und lief hinüber zu den Wohncontainern, in der Hoffnung, DeFries treffe in den nächsten Minuten ein oder schicke zumindest jemanden, der mir mein Quartier zuwies. Der Schnee knirschte unter meinen Stiefeln wie Kartoffelstärke. In den Eingängen der Inuit-Behausungen erschienen zwei Köpfe, und Eskimoaugen musterten mich neugierig-abschätzend. Wahrscheinlich Einheimische, die für DeFries arbeiteten. Warum sie nicht ebenfalls in den Containern wohnten, sondern ihre recht bescheidenen Iglus bevorzugten, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht.


Bis auf die Eskimos schien sich DeFries' gesamte Mannschaft im Kessel aufzuhalten. Ich stellte meine Tasche neben einem der Container ab und lief auf ein Geräusch zu, das sich anhörte, als versuche jemand vergeblich, einen Außenbordmotor oder eine Kettensäge anzuwerfen. Die gesamte Containerburg ruhte auf einem Fundament aus schweren, schenkeldicken Holzbohlen, um sie vor dem langsamen Versinken im Eis zu bewahren.
  In einem Doppelcontainer, der als Geräteschuppen diente, fand ich einen Mann, der sich am Motor eines Schneemobils zu schaffen machte. Der Container lag als einziger ebenerdig, da er unbeheizt war. Als ich mich vor dem zu zwei Dritteln geöffnete Metallrollo bückte, um einen Blick ins Innere zu werfen, sah der Mann trotz des Lärms, den der stotternde Skidoo-Motor verursachte, auf. Er blickte zuerst an die gegenüberliegende Containerwand, dann über seine Schulter. Für einen Mechaniker erschien er mir fast zu schmächtig, geradezu knöchern. Er trug eine ölbespritzte Nickelbrille, sein Haar war millimeterkurz geschoren, und sein Gesichtsausdruck wirkte genervt, gehetzt und überrascht zugleich.
  »Hallo«, rief ich laut, um den Motor zu übertönen, und trat ein. »Ich bin Poul Silis.«
  »Ah!«, machte mein Gegenüber. Er stellte den Motor ab und erhob sich mit einem schweren Seufzer, als habe er zwei Tage ohne Pause vor dem Skidoo gekniet. Er musterte mich mit messerscharfem Blick, dann trat er auf mich zu und hielt entschuldigend seine schwarzverschmierten Hände hoch. »Palle Rijnhard«, stellte er sich vor. »Allround-Mechaniker. Bestehen Sie drauf?« Er streckte mir seine rechte Hand entgegen.
  »Nein, schon okay«, wehrte ich ab.
  »Ja ...« Rijnhard sah unschlüssig auf den Skidoo. »Wenn ich mit dem Scheißbock dort fertig bin, steht er zu Ihrer Verfügung. Kann aber noch'n Tag dauern. Wir haben Sie bereits gestern Abend erwartet.«
  »Hansen hatte ein Problem mit dem Helikopter.«
  Rijnhard zeigte ein schmales Grinsen. »Ja, scheiß Technik.« Er betrachtete seine Hände, als könne er sie mit Blicken reinigen, sah dann ruckartig auf. »Falls Sie nicht darauf bestehen, an der Hand geführt zu werden, zeige ich Ihnen Ihren Container und anschließend die Station. DeFries wird den Helikopter gesehen haben, aber er kommt erst gegen Abend hoch. Heißer Kaffee oder ein Bier?«


Das Lager umfasste insgesamt neunundzwanzig Container und war in zwei Komplexe aufgeteilt; einen Hauptblock, in dem sich die Arbeits- und Wohnräume der Techniker und Wissenschaftler befanden, und einen so genannten Infrastrukturblock, der mich aus der Luft an eine Stimmgabel erinnert hatte und etwa zwanzig Meter vom Hauptblock entfernt stand. Getrennt war das Lager wegen der Explosionsgefahr durch die Kraftstoffvorräte und dieselbetriebenen Anlagen im Infra-Block, erklärte Rijnhard. Fast alle Forschungsstationsverluste in arktischen Gefilden entstünden durch Feuer, denn es fehle meist an Löschwasser. Der eigentliche Stationsblock setzte sich aus vierzehn Containern zusammen. Fünf Schlafcontainer standen für maximal zwölf Personen zur Verfügung, dazu ein Container mit Nasszelle für Dusche, Bad, Toilette, Waschmaschine und Wäschetrockner, sowie ein Doppelcontainer, in dem sich eine Küche und Sitzgelegenheiten befanden. Zusätzlich funktionierte je ein Container als Speisekammer, als Stauraum für Material und Lebensmittel, als Büro, als Elektronikwerkstatt und als Betriebsraum für den Satellitenempfang.
  Der Infrastrukturblock war aufgeteilt in eine Notunterkunft mit Bad und Küche für je vier Personen, zwei Container mit je sieben 2000-Liter Dieselkraftstoff-Tanks, einen Separatoren-Container zur Reinigung des Kraftstoffs und je einen Container für Seewasser-Vorratstanks, eine Osmose-Anlage zur Süßwassergewinnung, ein weiteres Materiallager, eine Werkstatt für Schweißarbeiten und eine Wetterstation. Außerdem gab es einen Doppelcontainer, der als Materiallager für Transportkisten, Elektromaterial und Frachtbehälter fungierte, sowie den Container, der das Herz der Anlage beherbergte: zwei 135-Kilowatt-Dieselgeneratoren zur Stromerzeugung.
  »Das Leben hier ist nicht besonders komfortabel«, erklärte Rijnhard, als wir in der Küche saßen und Kaffee tranken. »Man versucht es sich so gemütlich wie möglich zu machen. Die Stimmung hängt natürlich auch von der Qualität des Essens ab. Paamit ist nur jede zweite Woche bei uns. Eine Woche lang kocht er, die andere Woche, in der er in Asqenaesset bei seiner Familie ist, wechseln wir uns mit der Zubereitung ab. Die meiste Zeit leben wir aus der Dose. Das kann auf Dauer ganz schon fad sein, glauben Sie mir. Hansen bringt dann und wann frische Lebensmittel aus Mestersvig mit. Unser Brot backen wir in der Regel selbst. Aufgrund der Schichtpläne rund um die Uhr und der Tatsache, dass es noch ein paar Wochen lang nicht richtig dunkel wird, werden Sie in der nächsten Zeit hier kaum mehr als zwei, drei Kollegen gleichzeitig antreffen. Wenn überhaupt. Man arbeitet oder man schläft.« Er machte eine kurze Pause, als wolle er noch etwas sagen, schüttelte dann unmerklich den Kopf und erklärte: »Sie werden bald feststellen, warum ...«
  Anschließend führte mich Rijnhard durch die Arbeitsräume. Verwaiste Computerarbeitsplätze und Schreibtische herrschten vor, in zwei Containern musste Rijnhard sogar erst das Licht anschalten. »Jeder Container ist exakt 2,10 auf 5,60 Meter groß«, erklärte er. »Vor vier Wochen ging es hier noch recht lebhaft zu. Jorgensen wurde jedoch ... äh ... krank, drei andere bekamen so etwas wie einen Lagerkoller.«
  »Weshalb erhalte ich einen separaten Container, wenn hier genügend Platz frei ist?«
  »Die Rechner sind noch belegt. Besser gesagt, sämtliche Daten der Kollegen sind noch darauf gespeichert. Einiges davon ist noch nicht ausgewertet. Bohrkernanalysen, Geosondierungsdaten und so weiter ... Eine ziemliche Unordnung überall. In ein paar Tagen haben wir vielleicht einen der Arbeitsplätze frei gemacht ...« Rijnhard starrte auf einen der toten Monitore und nickte versonnen. Er zog einen Flachmann aus seinem Anorak und nahm einen kräftigen Schluck. Ich sah ihn fragend an, worauf er die Flasche wieder verstaute. »Ja«, sagte er dann und schaltete das Licht aus. Sein Atem roch nach Cognac. »Die seelische und physische Belastung ist hier enorm groß. Nicht alle halten das aus.«
  Es klang in meinen Ohren wie eine Ausrede und besaß einen schalen Beigeschmack, der eine Alarmanlage in mir aktivierte. Stufe eins: dezente Wachsamkeit. Sensibilisierung der Sinne. Rijnhards Ansatz, etwas sagen zu wollen, es aber nicht frei über die Lippen zu bringen, beunruhigte mich und weckte gleichzeitig meine Neugier. Irgend etwas schien vorgefallen zu sein, und das Risiko, es einem Neuankömmling bereits nach einer Stunde zu erzählen, war wohl zu groß.


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